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15.03.2001
Großer Minoritensaal, Graz

Christian Fennesz / zeitblom
Symphonie einer Großstadt

Christian Fenneszelectronics
zeitblomelectronics


Live-Elektronik zu Walter Ruttmans Stummfilmklassiker "Symphonie einer Großstadt"


Zwei Stars der internationalen elektronischen Avantgarde schließen sich kurz zu Golden Tone. Der in Berlin lebende Künstler zeitblom, erprobt in diversen Metiers - von Elektronik, Bass, Komposition und Klanginstallation bis Sound-Environments, Neues Hörspiel und Arbeiten fürs Theater und Buch-CD-Projekte -, Partner von Fred Frith, John Zorn, Arto Lindsay, Christian Marclay und anderen Größen der gegenwärtigen Musik. Und der Österreicher Christian Fennesz, der - wohl nicht nur hierzulande - keiner Vorstellungsrunde mehr bedarf. Mit ihren improvisierten Liveacts treten Golden Tone also in verschiedensten Umfeldern auf. In hochrespektablen Locations der Avantgarde, wie dem ZKM in Karlsruhe oder dem Museum für Moderne Kunst in Wolfsburg, in diversen Clubs, wie etwa Maria am Ostbahnhof in Berlin, oder auf internationalen Musikfestivals. Ihrem Interesse an Filmischen fröhnen sie darüber hinaus mit Liveelektronischem zu aktuell produzierten Videos und Filmen oder auch Stummfilmklassikern wie etwa "Nosferatu" zuletzt in den legendären Berliner Filmstudios. Da Murnau schon im letzten Jahr mit Wolfgang Mitterer am Programm von open music stand, werden zeitblom und Fennesz sich heuer Walter Ruttmanns "Berlin - Sinfonie der Großstadt" aus dem Jahr 1927 widmen. Elektronik zur künstlerischen Dokumentation und Vision des dynamischen Berlins der 20er Jahre.

Zeitblom
Lebt in Berlin und arbeitet in diversen Metiers: Elektronik, Bass, Komposition, Klanginstallation, Neues Hörspiel/Akustische Kunst, Sound-Environments. Er gründete die Avant Rock Band Sovetskoe Foto (1984-1993). Zusammenarbeit mit Fred Frith, John Zrn, Arto Lindsay, Zeena Parkins, Pyrolator. Mitglied des Improvisationsensembles ThoThmnn Anlagen (1994-1996). Komposition der Musik-Theater-Skulptur "Les Sortileges" von Christian Marclay am Münchner Marstall Theater 1996. Buch-Cd-Projekte mit verschiedenen Autroen, u.a. Ulrich Schlotmann, DJ-Projekte mit Kalle Laar, Konzertgruppe fennesz/rantasa/zeitblom, Isolationstank Projekt "Bioadapter", Musiken für Theater und Tanz, Elektronische Lese-Performances, Radio-Hörstücke, zahlreiche Veröffentlichungen und vieles mehr.

Fennesz
Christian Fennesz startete seine musikalische Karriere als Sänger, Gitarrist und Songwriter in der Gruppe MAISCHE, einer der interessantesten Bands, die in den späten Achzigern den Wiener Untergrund bevölkerten. MAISCHE integrierten bereits freie Improvisation und Instrumentalmusik zu einer Zeit, als solche Praktiken vom Rockpublikum generell nicht akzeptiert wurden. Nach Auflösung der Band 1993 überarbeitete Fennesz seine musikalische Herangehensweise und veröffentlichte 1995 die 12" EP "Instruemten" auf dem Elektroniklabel Mego. Befreit vom konstruktuven Format der Band konnte er nun frei mit den neuen elektronischen Möglichkeiten und einem völlig neuen Publikum experimentieren. Seitdem veröffentliche er eine EP auf Syntactic records und 1997 eine Longplayer CD auf Mego mit dem Titel "Hotel Paral.lel". Fennesz trat sehr häufig live in Erscheinung, swohl solo als auch in Kooperation mit anderen Musikern, u.a. auf verschiedenen Festivals wie Phonotaktik, Hyperstrings, Sonar, ARS Electronica, Konfrontation, LMC, Musikprotokoll. Auch tourte er mit Peter Rehberg und Jim O´Rourke und arbeitete für die "Tanz Hotel Dance Company". Bei der Ars Electronica 1999 in Linz erhielt Fennesz den zweiten Preis.

Golden Tone
Mit ihren imrpovisierten Liveacts treten "Golden Tone" sowohl in hochrespektablen Locations der Avantgarde auf, wie z.B. dem ZKM in Karlsruhe oder das Museum für Moderne Kunst in Wolfsburg, rocken aber auch das Publikum in angesagten Clubst, wie etwa "Maria am Ostbahnhof" in Berlin. Zusätzlich vertonen sie live Stummfilme wie die Klassiker "Berlin - Die Simfonie der Großstadt" von Walter Ruttmann in den Babelsberger Filmstudios oder "Nosferatu" von F.W. Murnau im Gloria Filmpalast in München.

Die Platte
Golden Tone formt in der Livebearbeitung von Soundsamples suggestive synthetische Klanglandschaften, zusammengesetzt und prozessiert as extrem reduziertem Material, sparsamen Geräuschen, Zeichen, Abfällen, Tönen und Tönungen, die in ständiger pulsierender Verwandlung begriffen sind und gelegentlich von rhythmischen Grooves durchzogen werden. Die Akustischen Texturen wirken irreal, wie aus sehr entfernten fremden Räumen stammend - wie von "dahinter". Die CD wurde beim ersten Zusammentreffen von Fennesz und Zeitblom am 10.3.1999 im Podwill/Berlin aufgenommen und beinhaltet das komplette Konzert. (Golden Tone "micro data" live, berlin ´99; Vert.: InterGroove/MEGO)

Die Presse
"... wer nur ein bisschen Musikalität im traditionellen Sinne sucht, soll große Bogen um diese Platte machen ... Der Witz dabei ist, dass, wenn jemand nur einmal selbstvergessen bei einer Technoparty getanzt hat, wird er diese Platte sogar genießen können. In hundert Jahren wird man Micro Data als grundlegendes Werk betrachten." (Play Station Magazin)

Berlin - Die Sinfonie der Großstadt
Deutschland (Fox Europa) 1927. 35mm, s/w, stumm, 1.049 m.

R: Walter Ruttmann. B: Karl Freund, Walter Ruttmann, nach einer Idee von Carl Mayer. K: Karl Freund, Reimar Kuntze, Robert Baberske, Lászlo Schäffer. S: Walter Ruttmann. M: Edmund Meisel.

Als ein stilbildendes Meisterwerk, das die Neue Sahclichkeit in den Film überführte, wurde "Berlin - Die Sinfonie der Großstadt" gleich nach der Uraufführung (23.9.1927 im Berliner Tauentzien-Palast, begleitet von einem großen Live-Orchester unter der Leitung des Komponisten Edmund Meisel) gefeiert. "Das größte, grundsätzlich wichtigeste Filmereignis seit vielen Jahren", befand Willy Haas (Film-Kurier, 24.9.1927). Der Montagefilme - ausschließlich Dokumentaraufnahmen, ohne Spielfilmhandlung - hat nichts von seiner Faszination eingebüßt: Ruttmann hat den Rhythmus der Metropole Berlin eingefangen, einen Querschnitt des Lebens einer Großstadt in Form eines Tagesablaufs, vom Morgengrauen bis in die Nacht.
"Berlin - Die Sinfonie der Großstadt", in fünf Akte gegliedert, beginnt mit abstrakten Wellenmotiven - ähnlich Ruttmanns früheren "absoluten" Filmen "Opus I-IV" - , wechselt dann über in schnelle, spannungsvolle, rhythmische Bildfolgen, in denen die Fahrt eines Nachtschnellzuges in die im Morgengrauen schimmernde Großstadt bis zum Anhalter Bahnhof gezeigt wird. Durch ständig wechselnde Kamera-Aufnahmestandpunkte - waagrecht, diagonal, senkrecht - huschen die sehr kurzen Landschaftseinblicke wie in einem Traum vorbei, unterbrochen von Telefonmasten, Schienen, Weichen, Rädern und Lokomotivmaschinenteile wie in "La Roue" (1922/23) von Abel Gance. Auf diesen dynamischen Auftakt folgt eine ruhige Sequenz: Es ist 5 Uhr morgens, man sieht menschenleer Straßen, die sich erst langsam, dann schneller beleben. Den S-Bahn-Zügen entsteigen Menschen, die zur Arbeit eilen, Maschinen setzen in den Fabriken ein, Kinder gehen zur Schule, Briefträger schwärmen aus, Herrenreiter reiten aus, Massen demonstrieren, der Verkehr belebt sich. Ruttmann splittert Motive wie in einem Kaleidoskop: Mittagspause, Arbeiter essen, Tiere bei der Fütterung, Stehimbiß. Die Szenen vom Nachmittag gleiten über in den Feierabend: Menschen in Cafés, beim Sport und Freizeitbeschäftigungen, schließlich das Nachtleben: Kino, Theater, Tanz, Kneipe.
Für diese filmische Sinfonie komponierte Edmund Meisel eine Originalmusik für ein 75köpfiges Orchester, zu dessen Instrumenten Hupen, Rasseln, Amboß, Eisenblech, Vierteltonklavier und ein spezielles Geräuschinstrument gehörten. Während der Urauffühgrung waren die Musiker im ganzen Lichtspieltheater verteilt. Da einen solchen Aufwand nur die großen Filmpaläste betreiben konnten, legte Meisel außerdem eine Partitur für Orchester mit kleinerer Besetzung vor.
Ruttmann bemüht sich auch um einen sozialen Querschnitt und konfrontiert arm und reich. Harte Schnitte stellen polemische Verbindungen her, die an Einstein erinnern: Arbeiter auf dem Weg zur Fabrik/eine Viehherde auf dem Weg zum Schlachthof. Doch Ruttmanns eigentliches Interesse ist formaler Natur: Ihm geht es um "die Sichtbarmachung der sinfonischen Kurve". Er wollte kein Bilderbuch schaffen, sondern "eine komplizierte Maschine, die nur in Schwung geraten kann, wenn jedes kleinste Teilchen mit genauester Präzision in das andere greift." Die Technikfaszination der Neuen Sachlichkeit, die hier zum Ausdruck kommt, wurde bereits von zeitgeössischen Rezensenten kritisiert. Ruttmann bleibe an der Oberfläche, hieß es im sozialdemokratischen "Vorwärts", "er dringt nicht tiefer ein, er zeigt nicht den Berliner Menschen, der diesen Rhythmus treibt" (25.9.1927). In der "Frankfurter Zeitung" war Siegfried Kracauer Ruttmann "Haltungslosigkeit" vor (30.11.1928).
Ruttmann, der Ende 1919 mit "Opus I" den ersten deutschen Avantgardefilm schuf und von 1922 an abstrakte und farbige Reklamefilme machte, hatte mit seinem ersten abendfüllenden Film auch international Erfolg. Er, der in den zwanziger Jahren als "links" galt, in Berlin mit Erwin Piscator und in Paris mit René Clair zusammenarbeitete, hoffte auf Regie-Aufträge im nationalsozialistischen Deutschland und verdingte sich als Mitarbeiter bei Leni Riefenstahls Parteitagsfilm "Triumph des Willens". Seine Rechnung ging nicht auf: Ihm wurden keine großen Projekte anvertraut; stattdessen inszenierte er als Angestellter der Ufa-Werbefilm-Abteilung traditionelle Städteproträts, die weit entfernt sind vom innovativen Charakter seines Berlin-Films. Dagegen dokumentieren seine Industriefilme, die sich ganz in den Dienst der Nazi-Propaganda stellten wie "Deutsche Waffenschmiede" und "Deutsche Panzer" (beide 1940), daß Stilelemente der Neuen Sachlichkeit sich bruchlos verbinden ließen mit einer faschistischen Ästhetik.
Peer Moritz

Links
Christian Fennesz http://www.fennesz.com
Zeitblom http://www.zeitblom.de